Kurz ist er schon lange nicht mehr – auch wenn er so heißt: der Brief. Literarisch ist er so lange schon, dass wir die Anfänge gar nicht ernsthaft suchen wollen. Seneca schrieb an Lucillus – und zwar 120 Briefe, die schon seinerzeit in 20 Büchern zusammengefasst wurden. Sie waren äußerst beliebt – und lange hielt man den Empfänger Lucillus für ebenfalls fiktiv.
Auch der Apostel Paulus pflegte seine moralischen Lehreinheiten in Briefe zu packen. Gesegnet mit seinen Schriften wurden die Thessaloniker, die Galater, die Korinther, die Römer, die Philipper, die Epheser, die Hebräer.
Dann gibt’s noch Goethe, der den Brief bis hinein in die Gegenwart salon- und literaturfähig gehalten und erneuert hat. Und offenbar ist Goethe so maßgeblich für den Brief, dass Google, der/die/das jetzt neue, flexible Rubrikenköpfe den alten Buttons von News bis Video hinzufügt, für ihn eine eigene Rubrik aufmacht, wenn man „Briefe an“ in die Suchzeile gibt.
Neuer, aber auch schon wieder so alt, dass er bei Thalia gerade als feministische Wiederentdeckung angepriesen wird: Der „Brief an ein nie geborenes Kind“ von Oriana Fallaci. Und ich meine es jetzt gewiss nicht als Spott, wenn ich behaupte: Hier stimmt irgendetwas mit dem Adressaten nicht. Das nie geborene Kind wird nicht lesen können. Und klar doch, es liegt auf der Hand, die Adressatinnen waren, und das ist anders als bei Seneca und Paulus, Menschen in der gleichen Lage. Keine Predigt, keine Lehre. Es geht um Mitgefühl. Vielleicht. Vielleicht sogar um mehr.
Kurz: Briefe eignen sich nicht nur für Nachrichten. Sie eignen sich nicht nur für Kurzdarstellungen. Sie sind nicht nur längst literarische Gattung. Sie sind Ausdrucksform für Hinz und Kunz, für Gefühl, Frage, Laune, Stimmung. Auch für Meinung und Politik, natürlich. Die „Titanic“ hatte das längst alles entdeckt, als sie 1979 die „Briefe an die Leser“ erfand. Als es derer Tausend waren, gab’s beim Verlag „Zweitausendeins“ auch diese Briefe als Buch zu kaufen.